Stellen Sie sich eine Wand vor, die nicht nur grün bepflanzt ist, sondern auch summt, zwitschert und blüht. Eine Wand, die heimischen Tieren Unterschlupf bietet und mit regionalen Pflanzen gestaltet ist. Genau das ist die Idee von „Wilde Klimawand“, einem Gemeinschaftsprojekt der Universität Stuttgart, der HELIX Pflanzensysteme GmbH und des Fraunhofer-Institut für Bauphysik – und einer der Finalisten des Biodiversitäts-Sonderpreises der DGNB Sustainability Challenge 2024.
Die wilde Klimawand zeigt, wie vertikale Begrünungssysteme nicht nur das Stadtbild verschönern, sondern auch wichtige ökologische Funktionen erfüllen können. Wie Städte und Gemeinden profitieren auch Unternehmen von solchen Biodiversitätsmaßnahmen. Sie erhöhen nicht nur die Klimaresilienz und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden, sondern transportieren nach außen die Botschaft, dass das Thema Biodiviersität als Bestandteil der Unternehmensstrategie gedacht wird.
In unserem heutigen Interview erfahren Sie mehr über die technischen Besonderheiten und die visionären Ideen, die hinter diesem beeindruckenden Konzept stehen. Lassen Sie sich inspirieren und entdecken Sie, wie die wilde Klimawand zur Förderung der biologischen Vielfalt beiträgt.

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Was genau verbirgt sich hinter der „wilden Klimawand“, die Sie ins Finale des DGNB Sonderpreises Biodiversität im Rahmen der DGNB Sustainability Challenge gebracht hat?
Hinter der wilden Klimawand verbirgt sich ein innovatives Grünfassadensystem zur Förderung der Biodiversität in verdichteten urbanen Räumen. Durch die Integration heimischer Wildstauden, Kräuter und Gräser sowie gezielt darauf abgestimmter modularer Habitatsysteme, d.h. Brut- und Nistplätze für Wildbienen, Vögel sowie Fledermäuse, weist die Wand eine für Vertikalbegrünungen bisher einzigartige, heterogene Pflanzen- und Strukturvielfalt auf.
Welche spezifischen Merkmale und Techniken machen Ihre Gebäudebegrünung biodiversitätsfreundlicher im Vergleich zu anderen Begrünungssystemen auf dem Markt?
Marktgängige, konventionelle Grünfassadensysteme werden häufig unter gestalterischen Gesichtspunkten geplant und umgesetzt. Dabei wird aus optischen Gründen eine geringe Artenvielfalt mit immergrünen und häufig nicht-heimischen Pflanzenarten sowie eine strukturarme Bedeckung eingesetzt. Demgegenüber steht die wilde Klimawand. Bei der Pflanzenauswahl wird hier Wert auf eine heterogene Pflanzenzusammensetzung mit wechselndem und für die heimische Fauna wertvollem Blühvorkommen mit hohem Nektar- und Pollengehalt gelegt. Viele der eingesetzten Wildstauden werden derzeit erstmals in der Vertikalen erprobt. Auch die Erhöhung des Strukturreichtums durch die Integration von verschiedener mineralischer (z.B. Sand/Lehmsteilwand) und organischer (z.B. Totholz) Materialien wurde bei der Entwicklung der Habitate angestrebt und umgesetzt. Insgesamt stellt die wilde Klimawand daher einen symbiotischen Ansatz von Lebensraum-, Nahrungs- sowie Brut- und Nistplatzangebot für die heimische Tierwelt in der Vertikalen dar.

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Wie viel Biodiversität ist in Städten überhaupt möglich?
Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Städte sind durchaus wertvolle Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten. Oft ist gerade in der Stadt eine überraschend hohe Artenvielfalt zu beobachten. Gleichzeitig gilt auch: Je vernetzter und strukturreicher urbane, grüne Infrastrukturen sind, desto mehr Lebensräume für eine heterogene Tier- und Pflanzenwelt entstehen.
Mit der wilden Klimawand wollen wir gerade für hochverdichtete, urbane Räume einen funktionalen Lösungsbaustein bereitstellen, um den Strukturreichtum genau an diesen Orten zu erhöhen. Dabei ist die hier entwickelte Grünwand keinesfalls als Ersatz für horizontales Grün wie Stadtbäume, Wiesen- oder Ruderalflächen zu verstehen, sondern vielmehr als Ergänzung. Gerade im Bestand ist die Nachbegrünung in der Horizontalen durch diverse Flächenkonflikte oft nicht möglich. Gleichzeitig stehen aber meist zahlreiche, monofunktional genutzte vertikale Flächen zur Verfügung. Genau für diese Situationen kann die wilde Klimawand zukünftig zum Einsatz kommen.
Welche Bedeutung messen Sie der Biodiversität und der Gebäudebegrünung im städtischen Raum sowohl heute als auch in der Zukunft bei, und wie sehen Sie die Entwicklung in diesem Bereich?
Im Zuge einer klimawandelangepassten Umweltgestaltung kommt den Städten eine Schlüsselrolle zu: Einerseits ist der Klimawandel in den Städten durch die bauliche Gestaltung mit hoher Verdichtung und Versiegelung besonders ausgeprägt und spürbar. Städte und deren Bewohner:innen sind also besonders vulnerabel gegenüber den Folgen des Klimawandels. Andererseits ist die Stadtgestaltung vor dem Hintergrund steigender Anforderungen an klimawandelangepasstes Bauen auch als Chance zu verstehen, identitätsprägende und qualitative Orte aktiv zu gestalten.
Grüne Strukturen, ob in der Vertikalen oder in der Horizontalen, sind hierbei als multifunktionale Lösungsbausteine zu verstehen. Sie erhöhen nicht nur die Klimaresilienz der Orte, sondern schaffen auch potenzielle Lebensräume für die Tierwelt sowie attraktive Aufenthalts- und Erholungsräume für uns Menschen.
Welche Aufgaben oder Projekte stehen für Sie im Bereich Biodiversität noch an?
Die Fragen „Was kostet das System?“ und „Was ist der (monetäre) Mehrwert des Systems?“ werden uns von Interessierten der wilden Klimawand aktuell häufig gestellt. Gerade letztere Frage ist bei einem „lebenden System“, das sich nicht nur im Jahresverlauf verändert, sondern generell dynamisch auf externe Umwelteinflüsse reagiert, schwer zu beantworten. Hier wollen wir zukünftig den Wert, d.h. die Ökosystemdienstleistungen der wilden Klimawand sowie anderen Grünsystemen, genauer bestimmen und quantifizieren. Diese Forschungen sollen auch dazu beitragen, konkrete Planungs- und Handlungsempfehlungen für Kommunen und Städte zur umweltgerechten, klimaangepassten Stadtgestaltung für Mensch, Flora und Fauna abzuleiten.
Weiterhin spielt der Aspekt der langfristig orientierten Pflege eine wichtige Rolle für die Biodiversität. Daher erforschen wir auch, wie durch ein sensibles, extensives Pflegemonitoring die Biodiversität in der Vertikalen langfristig erhalten und sogar gesteigert werden kann. Insbesondere im Herbst und Winter zeigt unsere Wand ein anderes Erscheinungsbild als konventionelle Grünfassadensysteme. So entfernen wir beispielsweise vertrocknete und verblühte Pflanzen nicht sofort aus der Wand. Die braunen, vertrockneten Strukturen sind gerade im Winter wertvolle Rückzugs- und Lebensorte für Insekten. In diesem Zusammenhang spielt auch die Informationsvermittlung eine wichtige Rolle: Es ist entscheidend, dass das Wissen um die Bedeutung und Pflege nicht nur bei den Fachleuten bleibt, sondern auch der breiten Öffentlichkeit und insbesondere den Entscheidungsträgern in Kommunen und Städten zugänglich gemacht wird. Hierfür wollen wir Verständnis schaffen, dass funktionales, biodiversitätsförderndes Grün auch gerne einmal „wilder“ sein darf.
Über das Gemeinschaftsprojekt „Wilde Klimawand“:
Die „wilde Klimawand“ ist ein Grünfassadensystem mit heimischen Wildstauden, Kräutern, Gräsern und Strukturen sowie darauf abgestimmten integrierten Brut- und Nistplätzen für Wildbienen, Vögel und Fledermäuse. Ziel ist es, die Biodiversität und ein angenehmes Stadtklima in urbanen, hochverdichteten Räumen zu fördern. Beteiligt sind das Fraunhofer IBP, die Universität Stuttgart und Helix Pflanzensysteme.
Die Fragen beantwortete uns Dr.-Ing. Pia Krause (Transformation Bau | Abteilung Projekt- und Geschäftsfeldentwicklung | Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP) für das Projekt „wilde Klimawand“.
Gefördert wird das Projekt aus Mitteln des Klima-Innovationsfond der Stadt Stuttgart sowie vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.